Wir haben das Fernrohr aufgestellt und schauen direkt hinein in ihr Wohnzimmer. Matl hat uns einen schönen, strammen Anblick versprochen. Und tatsächlich: Wie ein Model steht sie da, die Gams, mit hoch erhobenem Haupt auf einem Felsvorsprung. Wir stehen auf der Terrasse der Oberen Gemstelhütte auf 1692 Meter. Alles was wir hier rundum am Ende des Gemsteltals in den Hängen des Widdersteins sehen, gehört zum 560 Hektar großen Jagdrevier von Mathias „Matl“ Fritz. Die steile Flanke gegenüber, so erklärt er uns, ist das Schlaf- und Wohnzimmer seines Hochgebirgswildes. „Reinschauen darfst du, aber reinschießen niemals“, meint der 56-Jährige weiter und streicht eine Locke aus dem Gesicht. „Das ist ihr zu Hause, dort fühlen sie sich wohl. Wenn dann schießt man sie, wenn sie sich am Rande bewegen.“ Matl macht eine Pause und wirft mit mahnendem Zeigefinger hinterher: „Und auch niemals vor Zeugen.“ Damit meint er nicht zusehende Menschen, sondern anderes Wild, das er nicht traumatisieren will. Er zielt nur auf ein Tier, das sich einzeln bewegt und niemals in ein Rudel hinein.
Als wir uns vom Fernrohr losreißen, fällt uns auf, dass es recht still geworden ist an den Tischen vor der Hütte. Wir sind offensichtlich nicht die einzigen, die Matls Ausführungen spannend finden. „Da weiß man die gleich noch mehr zu schätzen“, sagt ein Gast und reckt die dunkle Gamswurz in die Höhe.
Das freut den Matl. Genau das ist es, sagt er: „Wenn die Leute bewusst wahrnehmen, was sie essen. Da steckt so viel drin, von genau dem, was sie umgibt. Die Wiesen, die Kräuter, ein Tier, das so glücklich gelebt hat.“ Dafür schießt er dann auch gern – obwohl er das ja generell gar nicht so mag. Ihm geht es vielmehr um Wildpflege, darum den artenreichen Bestand zu halten. Geschossen wird nach drei Kriterien: „krank, schwach, alt“.
Ein Jäger, der ungern schießt? Geht sowas?
Selbstverständlich geht das. Genauso wie es geht, dass einer von Matls Söhnen Veganer ist. Oder als Erster in Österreich eine Snowboardschule aufzumachen. Oder dass er die Gemstelalpe übernommen hat, ohne Erfahrung als Hüttenwirt gehabt zu haben. Bei Matl geht alles – und es geht besonders gut, wenn es originell und weniger konventionell ist. Für seine Lebensgeschichte braucht man viel Zeit, ein schönes Plätzchen, von dem man ins offene Tal hinab- und zum Widderstein hinaufblicken kann – und ein üppiges Stück von dem unverschämt guten Käsekuchen, um auch ja genug Energie zu haben. Dann kann Matl loslegen – es begann alles recht traditionell auf zwei Skiern.
Der Großvater mütterlicherseits war ein legendärer Skifahrer, der mit Matls Mama im Rucksack fuhr. Der Vater hatte eine Skischule im Tal und da unterrichtete natürlich auch der Junior.
Als ihn Gäste fragten, was er denn im Sommer mache, zuckte er mit den Schultern. „Dann komm doch und arbeite für uns“, haben sie gemeint. Und so ist er nach Deutschland in den Ruhrpott und hat T-Shirts vertrieben. „Die kennt Ihr vielleicht“, sagt Matl, „das waren die Geissens, Ihr wisst schon, die aus dem Fernsehen.“ Matl lacht und nickt, während wir nur den Kopf schütteln.
Im Winter war er aber wieder zurück in seiner Heimat. Den Handel hatte er gelernt und so begann er, Snowboards aus seiner Wohnung heraus zu verkaufen. Irgendwie wundert es nicht, dass Matl sich 1986 für die neue Sportart interessierte. Immerhin steht man auf dem Brett quer und das passt ganz gut zu ihm. Der Vater konnte das weniger nachvollziehen, aber es kamen immer mehr Menschen von weit her ins Tal, um bei Matl ein Board zu kaufen und Unterricht zu nehmen. Unter anderem auch die Deutsche Nicola Thost, die 1998 bei den Olympischen Winterspielen in Nagano die Goldmedaille in der Halfpipe gewann.
Heute ist seine FUN ALP Skischule die einzig reine Privatskischule in ganz Österreich. Große Kurse will er nicht anbieten, der Matl, weil er es persönlich mag und „weil man auch nur so was Gscheits lernt und nur so die Lehrer auch wirklich Spaß haben.“
Wenn einen nichts mehr drinnen hält, das Verlangen nach Bewegung an frischer Bergluft übermächtig wird und der Duft nach Frühling ungeahnte Sehnsüchte weckt – dann ist es an der Zeit, den Frühling zu umarmen!
Überhaupt: Das mit dem Spaß haben, das ist Matl und seiner Frau Sabine wichtig. Für sie und für das Team, ob im Tal oder am Berg. „Bei uns kann sich jeder verwirklichen, jeder hat ein Talent und das soll er entdecken und ausprobieren dürfen. Das bringt die Erfüllung und die Leidenschaft im Job und das ist ja auch für uns gut.“ Zu dem Sich-entwickeln-lassen passt eine Sache aber gar nicht: ein festgezurrter Business-Plan. „Diese Banken mit ihrem Geschäftsplan“, schimpft Matl. „In allem, was ich mache, habe ich den konsequent nicht. In deren System passt nicht rein, dass sich die Dinge ganz natrlich ergeben, wenn man dran glaubt und alle gemeinsam hart arbeiten.“
Das zeigte sich auch wieder, als Sabine und er erst die Hintere und 2015 dann auch die Obere Gemstelhütte übernahmen. „Die Frau hat schon immer wieder gesagt, dass wir es ruhiger angehen lassen könnten. Aber ich hab nur gerufen: Nein, des müass ma macha. Stillstehen bringt doch nix außer lahme Beine!“ Natürlich hat Sabine die Antwort nicht überrascht, schließlich sind die beiden „mehr oder weniger“ seit ihrem 15. Lebensjahr zusammen. Und so schnauft sie und rollt mit den Augen, während sie in der Küche der Hinteren Gemstelhütte fleißig am Werkeln ist. Doch sie strahlt auch über das ganze Gesicht. Sie mag’s ja auch so wie ihr Mann, der heute früh wieder die knapp 400 Meter aufgestiegen ist zur höher und einsamer gelegenen Oberen Gemstelhütte. So sind sie eben Gastgeber geworden – und was für welche.
Sabine versucht Struktur reinzubringen, während Matl primär seinem Instinkt folgt. „Wenn einer mit Sonderwünschen ankommt, dann sag einfach Jaja und mach dann doch dein Ding“, erklärt Matl seine Strategie. „Da waren einmal Wohlhabende, die mit dem Auto zur Hütte fahren wollten. Da hab ich nur gesagt: Ja klar, und ich flieg euch mit dem Heli wieder raus. Die waren aber dann super zufrieden. Der gewünschte Champagner wurde mit Eis gekühlt, das ich oben vom Berg geholt hab. „Sowas von originell“, haben sie gejubelt. Und dann ist es schon auch schön, wenn so Delikattypen meinen, sie hätten noch nie so gut gegessen. Vielleicht denken sie sogar ein wenig um.“
Hier oben gibt es eben keinen Latte Macchiato, dafür eine Gamswurz nach eigenem Rezept.
Einen guten Kaffee bekommt man aber demnächst dann im Tal von der Familie Fritz. Dort hat nämlich Matl vor ein paar Jahren das nächste Projekt aufgetan, als die Gemeinde Mittelberg beschloss, das alte, denkmalgeschützte Gemeindehaus zu verkaufen. Bei der Begehung der Verantwortlichen kam Matl zufällig auf dem Bike vorbei. „Da hat einer von ihnen gerufen: „Matl, das wäre doch was für dich.“ Ich habe angehalten, gefragt, um was es geht und dann hat schon mein Bauch Ja gesagt.“
Es gab viele Bewerber für das geschichtsträchtige Walserhaus, aber Matls Konzept eines heimisch-heimeligen Cafés mit Verkauf von Produkten aus der Region überzeugte. Die Renovierung dauert allerdings noch immer an. Jeder Zentimeter braucht seine Zeit, seine behördlichen Genehmigungen und seine Handwerker, wie zum Beispiel bei den traditionellen Walser Fenstern. „Es hat gedauert, bis ich den Mathies Xander gefunden habe, der sie machen wollte. „Das braucht Zeit“, hat er gesagt – ich meinte nur: Die haben wir.“
Wir als Gäste würden uns aber schon freuen, wenn das Walserhaus recht bald seine alten, knorrigen Türen für uns öffnet und uns der Gastgeber vielleicht neue Geschichten zur Gamswurz auftischt.