Auch wenn es eigentlich nur gefrorenes Wasser ist, zählt Schnee je nach Temperatur, Wind und Luftfeuchtigkeit zu den komplexesten Materien auf der Erde. Die Schneedecke unterliegt einem steten Wandel und mit dieser Metamorphose verändert sich auch die Lawinengefahr. Die Lawinenkommission ist die Schnee-Taskforce des Kleinwalsertals. Im Auftrag der Sicherheit ist sie nicht im Untergrund, sondern ganz oben unterwegs - lange bevor die ersten Skifahrer sich auf den Weg zur Gondel machen. Gelegentlich lassen sie aufhorchen, wenn die Detonationen ihrer Schneesprengungen bis ins Tal donnern.
An Tagen, an denen die Herzen begeisterter Wintersportler höher schlagen, weil dicht gedrängt große Flocken vom Himmel fallen, laufen die Drähte bei Xander Ritsch heiß.
Als Vorsitzender der Lawinenkommission ist er auch die „Schaltzentrale“ und je nach Wetterlage muss die Situation mehrmals täglich neu eingestuft werden.
Die Empfehlungen der Lawinenkommission liefern nicht nur die Grundlage für die Entscheidung, ob und welche Straßen, Loipen und Skipisten gesperrt werden müssen. Es sind auch wertvolle Erkenntnisse, um Naturereignisse in der Zukunft besser zu verstehen.
Auf der fünfteiligen Skala herrscht bereits Stufe drei, also „erhebliche“ Lawinengefahr. Über Nacht sind im Tal erneut gute 40 cm Neuschnee gefallen. Die Mitglieder des Expertenteams sind seit 06:00 Uhr auf den Beinen, um die Lage zu analysieren. Eins ist schon jetzt klar: es ist ein heißer Tag und in ein paar Stunden werden zahlreiche Skifahrer und Snowboarder die Talstationen stürmen. Ob und wann die Lifte an diesem Morgen in Betrieb gehen können, steht und fällt mit der Einschätzung der Lawinen-Spezialisten.
Als Xander vor 30 Jahren Mitglied der Lawinenkommission wurde, hielten sich die verfügbaren Daten noch in Grenzen. Heute sind alle wesentlichen Parameter wie Schneehöhe, Lufttemperatur und Angaben zur Windstärke und -richtung jederzeit aktuell von den verschiedenen Wetterstationen mit dem Smartphone abrufbar. „Heute arbeiten wir Hand in Hand mit moderner Technik.“ Auch andere elektronische Wetterdienste und Lageberichte erleichtern die Arbeit. Dennoch, was zählt ist die Realität.
„Am Berg überprüfst du erstmal, ob das Bild, das du dir auf Basis der Daten gemacht hast, der Realität entspricht“, erklärt Christl. Für den staatlich geprüften Ski- und Bergführer sind die Berge nicht nur Arbeitsplatz, sondern vor allem Lebensraum.
Seit er laufen kann, verbringt er jede freie Minute draußen. Lebensraum hin oder her, eine große Portion Respekt muss sein: „Je mehr du weißt, erkennst du, dass die Natur sich nicht einfach so berechnen lässt. Bis ins letzte Detail kann man nie vorhersagen, warum und wann eine Lawine losbricht.“
Letztendlich sind es auch Erfahrungswerte, die helfen, zukünftige Lawinenereignisse zu vermeiden. Durch die jahrzehntelange Beobachtung sind die kritischen Gefahrenzonen genau bekannt. Auch an diesem Morgen wird über jede Stelle abgestimmt. Was das Walmendingerhorn betrifft, sind sich alle einig: heute muss gesprengt werden.
Die Bergbahnen haben in den letzten Jahren viel in die Sicherheit der Skipisten investiert. In bestimmten Bereichen ist ab einer gewissen Neuschneemenge das Sprengen aber nach wie vor unumgänglich. Eine vorbeugende Maßnahme, die verhindert, dass unter der enormen Schneelast ein ganzer Hang von alleine ins Rutschen gerät.
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Für das gezielte Auslösen von Lawinen müssen die Sprengsätze exakt positioniert werden. Die Kollegen an der Kanzelwand können die Sprengsätze größtenteils von der Bahn aus platzieren und zünden oder auf eine moderne Gasex-Anlage zurückgreifen: Über fest installierte Rohre wird mit einem Gasgemisch eine Explosion erzeugt. Für alle Beteiligten nicht nur die einfachere sondern vor allem auch sicherere Variante.
Am Walmendingerhorn ist noch ganzer Körpereinsatz gefragt. Um an die ideale Zündstelle zu gelangen, ist teilweise ein längerer Aufstieg ins Gelände erforderlich. Christl spurt sorgfältig vor, hinter ihm der Sprengmeister mit rund 10 kg Dynamit im Rucksack. In keinem Fall darf einer von ihnen jetzt eine Lawine oder Schneebrett auslösen. Nicht nur die Berge erzittern und der Schnee kommt ins Rutschen, wenn zwischen fünf und 15 Kilo Sprengstoff gezündet werden. Die Detonation schallt meistens weit bis ins Tal. Man kann sich vorstellen, was für ein Donnerschlag in unmittelbarer Nähe freigesetzt wird. So manches Mal hatte Christl noch an den nächsten Tagen das dröhnende Echo im Ohr.
Es ist bestimmt nicht der sicherste Job der Welt, zumal die Lawinenkommission ehrenamtlich tätig ist und nur eine kleine Aufwandsentschädigung erhält, aber eine große Leidenschaft. Selbst passionierte Wintersportler, angetrieben von der Faszination Schnee, gibt es für die sechs Männer der Lawinenkommission keinen natürlicheren Arbeitsplatz als die Berge.
Text: Britta Maier
Bilder: Frank Drechsel, Gemeinde Mittelberg