Dick und leuchtend weiß liegt der Schnee auf den Bergen und in den Tälern rund um Oberstdorf. Geräumte Wanderwege bieten Gästen allerdings auch im Winter die Möglichkeit, zahlreiche lohnenswerte Wanderziele im Allgäu zu erreichen. Eine Winterwanderung, die man auf keinen Fall versäumen sollte, ist die zum Bergdorf Gerstruben. Von der Mühlenbrücke in Oberstdorf geht es entlang der Trettach ins Seitental. Der Weg bis Dietersberg ist gemütlich, Wanderer können die Ausblicke auf die verschneite Landschaft ausgiebig genießen. Ab Dietersberg folgt der anspruchsvollere Teil der Strecke, denn dann geht es auf einer steilen Alpstraße bis Gerstruben zügig bergwärts.
Der Lohn der Aufstiegsmühe ist zuallererst der Blick auf eines der beliebtesten Fotomotive im Allgäu: Die mehr als 500 Jahre alten Holzhäuser schmiegen sich an die Bergflanke, umrahmt von den Allgäuer Alpen und der 2.259 Meter hoch aufragenden Höfat. Jedes Haus trägt einen Namen und hat sein ganz eigenes, von Sonne, Wind und Wetter gegerbtes, dunkelbraunes Gesicht. Im Gegensatz dazu fällt das weiße Äußere der kleinen Kapelle doppelt auf: Himmel und Erde verbinden sich hier auf ganz augenfällige Weise. Sämtliche noch erhaltenen Gebäude stehen unter Denkmalschutz und in dem kleinen, meist Samstagnachmittag geöffneten Museum erhält man einen einmaligen Einblick in das harte Leben im Bergbauerndorf.
Auch wenn dieses Bergdorf bei Oberstdorf klein ist, hält es doch viele Geschichten bereit. Besiedelt wurde der hoch gelegene Ort vermutlich vor rund 650 Jahren von eingewanderten Walsern, die das karge Leben in den Bergen gewöhnt waren. Auf den Hängen wurde Gerste angebaut, außerdem hielten die Bergbauern Kühe und im steileren Gelände Ziegen. Die Winter waren lang und entbehrungsreich, immer wieder war Gerstruben eingeschneit und auch aufgrund der Lawinenabgänge nicht erreichbar.
Schulkinder mussten die Wintermonate oft gegen Bezahlung bei Verwandten im Tal verbringen. Die heutige Postkartenidylle, erreichbar über den geräumten Winterwanderweg, erzählt bei näherem Hinsehen eine teilweise recht unromantische Geschichte. Da wundert es nicht, dass 1892/93 die Bewohner von Gerstruben das Kaufangebot für ihre Anwesen, unterbreitet von den Kemptner Elektrizitätswerken, gerne annahmen.
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Aus dem von den E-Werken geplanten Speichersee wurde jedoch nichts und so gingen Gerstruben und Umgebung 1896 in den Besitz der Wormser Adels- und Fabrikantenfamilie von Heyl zu Herrnsheim über. Während der folgenden Jahrzehnte wurde der große Besitz als Jagdrevier genützt. Die Familie logierte im Sommer im Haus Nummer 2, das bis heute "Baronehüs" heißt. Das Haus des Oberjägers Max Speiser trägt die Nummer 7, es steht etwas unterhalb der anderen Gebäude. Gerstruben war somit endgültig vom ganzjährig bewohnten Bergbauerndorf zur "Sommerfrische" geworden. Mit bergbegeisterten Wanderern hatten die Bewohner von Gerstruben allerdings schon einige Jahre zuvor Bekanntschaft gemacht. Der aufkommende Alpinismus hatte den Berglern dringend benötigte Einnahmen aus Gastwirtschaft und Bergführerwesen beschert.
Wie jede Geschichte fand auch die der Familie von Heyl zu Herrnsheim ein Ende. 1953 verkaufte die Witwe des jagdbegeisterten Besitzers Gerstruben an den Verein der "Rechtler". Interessierten tut sich hier ein ganz tiefer Blick in die Geschichte auf! Denn über viele Jahrhunderte war es im Allgäu üblich, dass mit einem Haus Weide- und Nutzungsrechte verbunden waren. Diese waren verbrieft, vererbbar und unverkäuflich. Noch heute sind 327 Rechte auf 271 Personen aufgeteilt. Als das Allgäu 1806 zu Bayern und Gerstruben 1818 zu Oberstdorf kam, war der Ärger groß, denn bei der Errichtung der Gemeinden wurden diese alten Rechte missachtet. Die "Rechtler" aber stritten für ihre Sache und so wurden ihnen in den 1950er-Jahren immerhin 1.700 Hektar Land- und Weideflächen zugesprochen, die sie bis heute verwalten.
Während des Winters gibt es für den Rückweg von Gerstruben nach Oberstdorf eine gefällige Alternative zum Hinweg. Zunächst geht man bis Dietersdorf auf demselben Weg zurück, dann überquert man die Zwingbrücke und geht über Golfplatz und Moorweiher zurück zur Mühlenbrücke.
Im Sommer bietet der Weg durch den Hölltobel, eine eindrucksvolle und wildromantische Klamm, für trittsichere Wanderer und Familien mit größeren Kindern eine besonders reizvolle Variante für den Auf-oder Abstieg. Im Sommer empfiehlt es sich außerdem, von Gerstruben bis in den Talschluss weiterzuwandern.
Bilder: Michael Monschau und Fotolia.