Es ist der zweite Tag, an dem Karl mit der Gruppe von Franky unterwegs ist. Skifahren kann der Zwölfjährige schon seit er vier ist, also fast sein ganzes Leben. Eigentlich hatte er mit Skikurs abgeschlossen, denn auch das Kleinwalsertal kennt er ziemlich gut. Das dachte er zumindest bis gestern. Aber sogar im Talskigebiet rund um den Heuberg hatte Franky Routen auf Lager, die ihm bisher verborgen geblieben waren. Dem Vorschlag seines Vaters zu folgen und nochmal in die Skischule zu gehen, hatte sich gelohnt.
Selten war Unterricht so kurzweilig. Aber bei dem Klassenzimmer kann auch wirklich nicht viel schief gehen. Das Kleinwalsertal hat den Jugendlichen eine Menge zu bieten. Obendrein zeigt es sich in diesem Winter von seiner allerschönsten Seite. Nach den ergiebigen Schneefällen im Januar hat sich eine stabile Schönwetterlage eingestellt. Perfekt für den Start der sogenannten Berliner Woche gab es nochmal gute 20 Zentimeter Neuschnee und pünktlich zum Kursbeginn am Montag scheint wieder die Sonne. Anfang Februar haben dieses Jahr neben dem deutschen Bundesland auch die Schweiz und ein Teil Österreichs Ferien. So ist Karls „Klasse“ bunt besetzt.
Nora (15) kommt wie Karl aus Berlin, Samira (15) und Paul (12) aus der Schweiz und Niklas (9) aus Niederösterreich. Die fünf haben sich am Montag in der fortgeschrittenen, der schwarzen Gruppe, auch bekannt als Freeski & Freestyle Corner, in der Skischule Hirschegg kennengelernt. Schnell verbindet sie die gemeinsame Leidenschaft, das Skifahren. Sie sind gute Fahrer und sicher auf der Piste, doch Franky weiß, wie er sie fordern kann, ganz ohne das klassische „Schulefahren“. Frankys Leidenschaft für das Skifahren ist ansteckend. Die vielen Jahre Erfahrung als Skilehrer und Skiführer sieht man dem Mittvierziger nicht an. Das verschmitzte Lächeln und die lockere Art sind sein Markenzeichen. Mit Franky haben die Teenager aber nicht nur einen erfahrenen Skilehrer an ihrer Seite, sondern auch einen Fotografen, der die schönsten Momente im Schnee festhält.
In der Heubergmulde finden sie direkt neben der Piste nicht präparierte Hänge, perfekt, um das Fahren im Pulverschnee zu üben. Zwischendrin verwandelt sich einer der Gruppe immer mal wieder in einen Schneemann. Aber mit jeder Fahrt werden die Schwünge leichter und es fühlt sich ein bisschen mehr an wie schwereloses Schweben.
Rechtzeitig zum Mittagessen geht es weiter auf das Walmendingerhorn. Den Nachmittag verbringen sie im steileren Gelände und feilen noch ein wenig an ihrer Fahrtechnik auf und neben der Piste. Franky gibt Tipps, erinnert immer mal wieder daran, nicht zu weit nach hinten zu sitzen oder lässt die Jugendlichen mit einfachen Übungen ausprobieren, wie sie die perfekte Skiführung finden – schön stabil, nicht zu breit und nicht zu schmal. Richtig spannend wird es aber, als es um die Ausrüstung und das richtige Verhalten beim Fahren im freien Gelände geht. Und das nicht nur in der Theorie, schließlich haben sie am nächsten Tag Großes vor.
Jeder bekommt ein Lawinen-Verschütteten-Suchgerät, kurz LVS-Gerät genannt. Franky erklärt die Funktionsweise und die zwei Betriebsarten, den Sende- und den Suchmodus. Nach einer Reihe von Instruktionen, wie eine Suche im Ernstfall abläuft, wird in Teams geübt. Systematisch und möglichst schnell, versuchen sie ein im Schnee vergrabenes Gerät aufzuspüren.
Am zweiten Tag geht es an den Ifen. Für den Nachmittag ist eine lange Tiefschneeabfahrt im Hinterland des Kleinwalsertals geplant. Zunächst heißt es aber die vielen Pisten und herrlichen Pulverhänge im Skigebiet zu erkunden. Bäume mit großen Schneehauben, feiner Pulverschnee, Abfahrten einfach so zum Dahingleiten und dann noch diese Weite - an solchen Traumtagen, wie ihn Franky und die Jugendlichen erwischt haben, liegt auf der Hand, warum man am Ifen gerne auch von Klein-Kanada spricht. Mit seiner imposanten Erscheinung macht es der Ifen auch leicht aus dem geografischen Nähkästchen des Kleinwalsertals zu plaudern. Noch gespannter lauschen die Jugendlichen aber, wenn Franky erzählt, was er alles schon auf seinen Touren erlebt hat. Und so arbeiten sie sich Fahrt für Fahrt durch das Freerider-ABC. Dabei wächst der Respekt der Jugendlichen. Lawinenkunde scheint mindestens so schwer wie Physik, wahrscheinlich sogar etwas komplexer, weil die Natur zu einem gewissen Grad immer unberechenbar bleiben wird.
Schnell ist klar, dass ohne das Wissen und die Erfahrung eines Skiführers eine Tour, wie sie es heute geplant haben, nicht möglich wäre. Nach dem Mittagessen wird es ernst. Bevor es ins Gelände geht, macht Franky den finalen Gruppentest. Im Abstand von ca. drei Metern geht jeder einzeln an ihm vorbei. Jedes Mal ertönt das eindringliche „Piepsen“ des LVS-Geräts. Alle sind auf „Senden“ und startklar. Das erste Stück bleiben sie noch auf der Piste, dann zweigen sie ab Richtung Schmalzboden, eine Freeride-Abfahrt ohne lange Aufstiege, was bei der Gruppe positiv ankommt. Auf einer Anhöhe bleiben sie stehen. Rechts von ihnen das Ifen-Massiv und das Skigebiet, das sie hinter sich gelassen haben, vor ihnen ein breiter, unberührter Hang.
Karl ist beeindruckt von dem atemberaubenden Panorama: „So viele Berge, das hört gar nicht mehr auf“, am Horizont reiht sich eine Bergkette hinter die andere, soweit das Auge reicht.
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Dann heißt es nur noch genießen. Eine halbe Stunde pures Tiefschneevergnügen wartet. Juchzer hört man nicht nur von Franky, auch Karl, Nora, Niklas, Paul und Samira lassen ihrer Freude hörbar freien Lauf. Das Terrain wechselt sanft, mal flache Hänge gespickt mit ein paar Latschen, mal wird es etwas steiler mit kleinen Erhebungen, die zum Abheben einladen. Gegen Ende schlängelt sich die Abfahrt durch den Wald. Immer in der Spur bleiben, ist die Devise. Und schließlich kommen sie im Wäldele an. Eigentlich viel zu früh, um abzuschwingen. Freudestrahlend und ein bisschen stolz auf ihre Leistung, spaziert die Truppe zum Bus, um zurück Richtung Talskigebiet zu fahren. Erfüllt von Glücksgefühlen, war die Vorfreude auf den nächsten Schultag selten so groß. Mal sehen was morgen bereithält, vielleicht ein bisschen Frestyler-Einmaleins im Snowpark Crystal Ground üben.
Bilder: Frank Drechsel